Alles begann mit einem Anruf. Vor kurzem hatten wir nach etwas mehr als 6 Jahren unser Studium beendet und fühlten uns zum ersten Mal vollkommen frei und ungebunden. Die Welt lag uns zu Füßen und wir waren bereit sie inbrünstig zu umarmen. Das aktuelle Jahr neigte sich allmählich dem Ende zu und noch waren die Abenteuer der bevorstehenden 12 Monate ungeschrieben, die Pläne kaum mehr als flüchtige Skizzen, erwachsen aus einem Bündel idealistischer Träume und loser Ideen. Ich war gerade im Begriff mich der wohltuenden Lethargie der weihnachtlichen Feiertage hinzugeben, als das Telefon plötzlich klingelte und am anderen Ende der Leitung die beflügelte Stimme eines vertrauten Freundes erklang.
Es handelte sich um eine Idee und er bat mich in diesem Zusammenhang um einen kleinen Gefallen, einen Freundschaftsdienst sozusagen, den ich ihm aus dem knapp 6000 km entfernten Deutschland erweisen sollte. Zum Zeitpunkt des Anrufs befand sich mein Gesprächspartner auf familiärer Spurensuche im westafrikanischen Gambia und in knapp 3 Wochen würden wir uns bei meiner planmäßigen Einreise am Flughafen in Banjul, der Hauptstadt des besagten Landes, wiedersehen. Er benötigte ein Auto, besser gesagt einen Kleintransporter. Wohlwissend um meine prinzipielle Bereitschaft sein unterbreitetes Vorhaben grundsätzlich in Erwägung zu ziehen, schlug er mir also vor, meinen Flug zu canceln und ihm diesen Kleintransporter auf dem Landweg nach Gambia anzuliefern. Die Tatsache, dass eine jungfräuliche Durchquerung der Sahara, der größten Wüste der Welt, mit einem in die Jahre gekommenen Mercedes Sprinter ein gewisses Maß an Vorbereitung bedarf, sei ihm durchaus bewusst. Er würde es verstehen, wenn ich einige Tage Bedenkzeit benötige und räumte mir diese großzügig ein. Eine Woche sollte jedoch genügen, denn das Anliegen sei dringlich und sofern ich der Idee zustimme, sollte die Reise in spätestens 2 Wochen starten. Nach einigen Überlegungen einigten wir uns zwei Tage später bei einem erneuten Telefonat darauf, zunächst alles beim Alten zu belassen, um den Trip in nur wenigen Wochen vereint und mit gemeinsamen Kräften zu bestreiten. Und so kam es wie planmäßig vorgesehen, dass ich mich Anfang Januar in Begleitung eines weiteren Gefährten im Landeanflug auf Banjul befand.
Es ist Vollmond. Die Nacht ist stickig und heiß. Alles ist unbekannt und neu, die Eindrücke frisch. Vor nur wenigen Stunden betraten wir zum ersten Mal afrikanischen Boden. Gambia, Westafrika, eines der ärmsten Länder des Kontinents sollte der Beginn einer prägenden Reise werden. Noch hatten wir nicht die leiseste Ahnung was die kommenden Wochen und Monate für uns bereithalten würden. Eine von abenteuerlicher Ungewissheit befeuerte Spannung hing in der tropisch schwülen Luft. Betörten Geistes liege ich auf einer spärlichen Schaumstoffmatratze, dem einzigen Einrichtungsgegenstand der sonst kahlen, vollends verwaisten Unterkunft in Brufut, welche fortan unser Basislager sein sollte. Durch die Fenstergitter der von hohen Betonmauern umgebenen Erdgeschosswohnung schimmert seicht das Licht des Trabanten. Meine Gedanken schweifen inmitten des Surrens unzähliger Moskitos ziellos umher, sind träge wie die stehende Luft, die mich umgibt. Ansonsten Stille. Benommen, im Begriff die Pforte zum Reich der Träume zu passieren, filtert mein schlummerndes Bewusstsein aus den Tiefen des Dunkels flüchtig ein kaum definierbares, fremdartiges Geräusch, welches rasch in unbestimmter Ferne wieder verklingt. Einige Minuten vergehen. Immer wieder ertönt dieses eigenartige, mystisch-esoterisch anmutende, latent bedrohliche Geräusch. Sprunghaft wandert es umher, umzingelt, hält inne, lauert. Die Kreise werden allmählich enger, Frequenz und Lautstärke nehmen stetig zu. Wie ein Jäger fixiert es seine Beute, nähert sich schleichend an, bereit für den entscheidenden Moment. Gnadenlos. In Teilen Mensch, in Teilen Tier. Schmelzende Halbtöne scheinen für einen kurzen Augenblick greifbar, bevor sich das Klangbild in deltaartige Nuancen zerschlägt. Schauderhaft. Alles bloß flüchtig träumerischer Wahn? Plötzlich ein metallisch lauter Knall nur wenige Meter entfernt. Adrenalin flutet meinen Leib, ergießt sich bis in die kleinste Faser meines Körpers. Hellwach und reglos liege ich vor Angst erstarrt im Zentrum des Raumes. Zu spät für ein Entkommen. Ich spüre den entschlossenen Blick des Jägers, sein tiefer, lechzender Atem dringt durch die Gitterstäbe der Fenster in den schutzlosen Raum und durchbohrt unbarmherzig die trügerische Stille der Nacht. Ich wage keinen Blick. Leise ertönt ein schleifendes Geräusch. Ich vernehme das stählerne Klirren gewetzter Klingen, die rhythmisch aneinander entlang gleiten, um der Schneide ihre unheilbringende Schärfe zu verleihen. Erneut ertönt ein lauter Knall, dicht gefolgt von einem finalen, aufheulenden Schrei. Die Reise ist hier und jetzt zu Ende, der Spuk des irdischen Daseins wohl endgültig vorbei. Ehrfürchtig erwarte ich das Urteil meines letzten Richters. Doch plötzlich herrscht Stille. Seicht scheint der Mond. Der Jäger ist unverhofft enteilt, gnädig, seine Beute blieb verschont.
Einige Jahre sind seither vergangen und oft noch erinnere ich mich an die Szenen dieser jungfräulichen Nacht, welche rückblickend zum Sinnbild einer von starken Emotionen begleiteten, abenteuerlichen Initiationsreise werden sollte. Eine Reise dreier Freunde, die reinen Herzens und in nobler Absicht, wenngleich weitestgehend blauäugig und im schwindelerregenden Blindflug, begann. Eine Reise, die uns zeigte was kollektive Stärke bedeutet und die unsere Freundschaft zu einem unwiderruflichen Bund zusammenschweißte. Einem Bund dessen brüderliches Geheimnis im Unaussprechlichen, im gemeinschaftlich Erlebten und in der erfolgreich durchgestandenen Grenzerfahrung besteht. Eine Reise, die uns stets vor neue Herausforderungen stellte und uns gelegentlich verzweifeln ließ, um uns anschließend immer wieder neue Hoffnung zu schenken. Eine Reise, die uns Kreativität, Pragmatismus und Improvisationsgeschick abverlangte, uns Entschlusskraft und die Macht der Gelassenheit lehrte. Eine Reise, die uns über den Tellerrand blicken ließ, die uns neue Perspektiven auf die Welt und ihre etablierten Machtgefüge ermöglichte, neue Horizonte schuf. Eine Reise, die uns Menschen näherbrachte, uns die restringierende Wirkung von Vorurteilen und Voreingenommenheit verdeutlichte und uns die Vorzüge einer aktiv gelebten Offenheit und Menschlichkeit spüren ließ. Eine Reise, bei der wir, persönlichen Ängsten zum Trotz, mit unbefleckter Zuversichtlichkeit den zahlreichen Ungewissheiten des Weges begegneten. Eine Reise, die unseren persönlichen Seinszustand transformierte, uns Reife und Charakter verlieh und uns auf nachhaltige Art und Weise prägen sollte. Alles in allem eine Reise ins Leben, eine Reise in die Welt, eine Reise zu uns selbst.
Die geisterhafte Erscheinung der eingänglichen Schaudernacht gab uns noch einige Tage zu rätseln. Unsere gambischen Freunde begegneten den aufgeregten Schilderungen mit einer Mischung aus wissender Erkenntnis und hämischem Schmunzeln, um uns im Anschluss jedoch weiter in Unwissenheit zu baden. In Geduld sollten wir uns üben, denn bald schon würden wir verstehen. Ohnehin blieb wenig Zeit zu grübeln, denn unwissentlich waren wir in media res in die Geschäftigkeit eines afrikanischen Beschneidungsritus geraten, dessen Ziel die Initiation dreier Jungs in die Stammesgemeinschaft der Mandinga, die in Gambia vorherrschende Mehrheit unter den traditionellen ethnischen Gruppierungen, zur Folge haben sollte. Die kommenden drei Wochen verbrachten wir im engen Kreis junger Männer, die als Initiationsbegleiter für das Wohlergehen und die tradierte Einführung der frisch beschnittenen Jungs im Alter zwischen 2-3 Jahren verantwortlich waren. Gewissermaßen durchliefen auch wir in dieser Zeit einen Initiationsprozess, denn zunehmend wurden wir vertraut mit der in Gambia sowie in vielen Teilen Afrikas noch weit verbreiteten natur-religiösen Mythologie und dem stark verankerten Glauben an Magie, Zauber und Hexerei. Wir wurden Teil eines Rituals, einer Gruppe, einer Kultur. Wir trafen Medizinmänner, wurden geweiht, besuchten die heilige Stätte der Fruchtbarkeit, beschworen Ahnen und Schutzgeister, zogen in den Busch, schmückten uns mit heiliger Rinde und kehrten als Krieger zurück ins Dorf. Wir aßen massenweise Mono und Domoda, hin und wieder Benechin, gerne auch Tapalapa sofern nicht gerade ausgegangen, wir spukten Jalo, zelebrierten Ataya, tranken Fruitpunch, zählten uns zu den Legal Hustlers, zogen singend und stampfend durch staubige Gassen, maßen uns im Ringkampf, kleideten uns in volkstümlichen Gewändern, schlugen Trommel, folgten zu jeder Tages- und Nachtzeit dem Rhythmus von Djembe und Sowruba, präsentierten unser Können und bewiesen unsere Stärke, stellten uns der Gemeinschaft zur Schau, entsagten Ruhe und Schlaf, tanzten, sprangen, sangen, wild, ausgelassen, ekstatisch, stundenlang, tagelang, bis zur völligen Entrückung.
Und dann war da noch der Konkuran. Eine in heilige Baumrinde gekleidete, mit zwei riesigen Macheten bewaffnete, mystische Bestie. Unsere flüchtige Bekanntschaft der ersten Nacht, die im zunehmenden Verlauf der Festlichkeiten immer häufiger und zumeist äußerst unverhofft in Erscheinung trat. Schnell mussten wir feststellen, dass mit dem Konkuran nicht zu scherzen war. Schließlich ist er es, der den Kampf mit der bösartigen Gesinnung teuflischer Geister aufnimmt, um die frisch Beschnittenen gerne auch mit roher Gewalt, vor Schaden, Krankheit und zukünftigem Unglück zu beschützen. Einmal entfesselt, scheucht er in tranceartiger Unberechenbarkeit wild schreiend durch Gassen und Höfe. In den Gesichtern der Dorfbewohner spiegelt sich beim Anblick des Konkuran blankes Entsetzen wieder. Frauen verbarrikadieren sich verängstigt in ihren Häusern, Kinder brechen in Tränen aus und wer nicht schnell genug das Weite sucht, handelt sich einen kräftigen Hieb mit der Machete ein. Es herrscht Chaos bis der Konkuran, so unverhofft wie er die Bühne betrat, schlagartig wieder verschwindet.
So trieben wir die ersten Wochen im gewaltigen Strom der Ereignisse dahin und erhielten einen authentischen Eindruck vom Leben an der „Smiling Coast of Africa“. Die tägliche Flut an Eindrücken verarbeiteten wir zumeist an der Kololi Beach Happy Corner, unserem bevorzugten Spot am Senegambiastreifen, an dem wir uns allabendlich einfanden, um uns in der salzigen Lake des Atlantiks reinzuwaschen und dem dort angesiedelten Beachbreak bestenfalls noch einige Wellen zu entlocken. Obwohl Gambia südlich der senegalesischen Almadies Halbinsel liegt, welche als westlichster Punkt Kontinentalafrikas als absoluter Wellenmagnet fungiert und somit die meiste Energie der Nordatlantischen Swells schluckt, bieten die exponierten Strände der Senegambia und Kombo Area in den Wintermonaten der nördlichen Hemisphäre dennoch einiges an Potential. Die Surfszene des Landes war zum Zeitpunkt unseres Trips im besten Fall sehr spärlich entwickelt und quasi nicht existent. Auch reisende Wellenreiter verirren sich eher selten an die nur knapp 30 km lange Küste Gambias, die aus surftechnischer Sicht noch einige blinde Flecken beherbergt. Diesen Umständen war es also geschuldet, dass wir den Atlantik überwiegend verwaist, jedoch selten wellenlos vorfanden und folglich, auch aufgrund der reichhaltigen „after surf“ Baobab-Fruitshakes, immer auf unsere Kosten kamen.
Die Zeit verging wie im Flug. Ehe wir uns versahen waren knapp 5 Wochen dahingeschmolzen und unsere Heimreise stand unmittelbar vor der Tür. Die vorübergehende Rückkehr nach Deutschland sollte allerdings nur von sehr kurzer Dauer sein, denn die Reise war noch lange nicht zu Ende. Gewissermaßen handelte es sich lediglich um den Startschuss für die Ereignisse, die folgten. In den behüteten Kreisen unserer gambischen Freunde hatte unsere Initiation begonnen, die anstehende Etappe sollten wir jedoch alleine gehen. Zurück in Zentraleuropa machten wir uns sogleich ans Werk und nutzten das relativ bescheidene Zeitbudget von etwa 3 Wochen zur intensiven Vorbereitung unseres Reisevorhabens. Konkret ausgedrückt: Wir kauften 2 alte, mechanisch überholungsbedürftige Mercedes Sprinter samt fragwürdiger Bereifung, besorgten 5 abgefahrene Ersatzgummis samt Felgen, deren Muster, wie sich später noch herausstellen sollte, nicht dem unserer Fahrzeuge entsprach. Wir sammelten bergeweise ausgediente Klamotten und anderen Firlefanz, informierten uns fadenscheinig über die bevorstehende Route und potenzielle Gefahrenquellen, bepackten die Transporter unsystematisch mit den gesammelten Kostbarkeiten, quetschten zwei ausgediente Matratzen unters Dach, verluden Surfboards, 2 Kanister Traktordiesel und einen Sack Pfälzer Kartoffeln und setzten unsere Segel an einem sonnigen Sonntagmorgen selbstsicher, unbedarft, frohen Mutes und weitestgehend planlos auf Kurs Richtung Süden, der sandigen Sahara entgegen.
Die Tatsache, dass wir aufgrund einer wohlwollend interpretierten Tanknadel und dem daraus resultierenden Spritmangel nach 60 km zum ersten Mal Starthilfe benötigten, war schnell verdrängt und nach einer durchfrorenen Nacht vor den Toren Barcelonas, bei aller Sorgfalt hatte leider niemand mehr an Schlafsäcke gedacht, sowie einer erleuchtenden Begegnung mit einem promovierten Trucker, der uns im regnerischen Dunst Andalusiens das Ausmaß unserer torhaften Vorbereitung vor Augen führt, bereitwillig seinen reichen Erfahrungsschatz mit uns teilt und unsere Reiseroute somit nachhaltig beeinträchtigt, hatten wir Europa nach 2 Tagen erfolgreich durchquert. Wir setzen über nach Ceuta und steuern nach einer Übernachtung nahe Rabat geradewegs auf Marokkos „Rote Perle“ Marrakech zu. Wir durchqueren malerische Landschaften und bei der Einfahrt nach Marrakech geraten wir ins Staunen. Die auf einem Plateau gelegene Metropole liegt zu Füßen des mächtigen Atlasgebirges, das majestätisch am Horizont thront. Die Medina und unzähligen Souks der wundersamen Stadt ziehen uns für einige Tage in ihren Bann und das orientalische Flair versetzt uns sprichwörtlich in das Märchen von Tausendundeine Nacht.
Sinnbetört und surfhungrig rollen wir weiter und schneiden entschlossen Richtung Atlantik, wo die zerklüftete Küste Südmarokkos wahre Wellenwunder zu vollbringen vermag. In der tristen Schönheit der halbwüstenartigen Gefilde reiht sich ein Break an den Nächsten und das Land beherbergt darüber hinaus einige der besten Right Hand Points der Welt, die wir zum Zeitpunkt unserer Reise noch überwiegend verlassen vorfinden. So treiben wir im tranquilen Taumel, stets salzig und stoked, eine Weile dahin. Gewissermaßen warten wir auf ein Zeichen. Ein Zeichen, dass uns den Weg deuten würde. Als wir eines Morgens erwachen, uns ein seltsam warmer Föhn sanft durchs salzig zerzauste Haar säuselt und dabei einen Hauch von Melancholie versprüht, wussten wir unsere in Unbeschwertheit verbrachten Tage waren vorerst gezählt. Wie ein verheißungsvoller Bote aus exotischen Landen schien diese verführerische Brise an unseren Aufbruch zu appellieren und so näherten wir uns langsam aber sicher dem politisch annektierten Gebiet der West Sahara. Die Landschaft wird karger, Polizei-, Militär-, und Zollpräsenz nehmen zu. Der Umgang wird schroffer. Die Situation war auch aufgrund des erst kürzlich zuvor eskalierten Malikonfliktes angespannt und unsere Karawane weckt zunehmend die Neugier habgieriger Scharlatane. Parlez lautet das Zauberwort. Geduld und Verhandlungsgeschick werden zu wertvollen Ressourcen und immer wieder aufs Neue erprobt. Zwei beschwerliche und staubige Reisetage entlang einer verlassenen und vor Hitze flirrenden Küstenstraße, welche sich zwiespältig zwischen stummer Wüste und säuselndem Meer anmutig ihren Weg bahnt, führen uns in die Hauptstadt der West-Sahara. Die Oase Dahkla, gelegen auf einer etwa 40 km langen Sandhalbinsel, wird zum finalen Zwischenstopp, bevor wir in die Ungewissheit Mauretaniens und somit ins Herz der Wüste vorstoßen sollten. Hier reinigen wir uns ein letztes Mal in den Fluten des Atlantiks, als Hue unverhofft seine Schatzkammer öffnet und uns mit Wellen von unbeschreiblicher Perfektion für die bisherigen Mühen belohnt. Wahre Juwelen der Wüste, sie zu finden erfordert Mut – Fatal Morgana oder real, die Wüste hütet ihre Geheimnisse gut.
Mit einem freundlichen Lächeln nimmt uns der senegalesische Zollbeamte, dessen Gesicht seltsam vertraut wirkt, an der Grenze zu Gambia in Empfang. Die Grenze ist uns bestens bekannt, bei einem vorangegangenen Trip ins Wellenmekka Dakar passierten wir diese bereits 2-mal problemlos. Alles ist ruhig, es ist brütend heiß und die Sonne steht im Zenit. Die vergangenen 4 Tage haben an unseren Kräften gezehrt und alle blicken sehnlichst der Ankunft in Brufut entgegen. Noch 30km und wir haben unser Ziel erreicht. Von der Einreise nach Gambia trennt uns lediglich ein finaler Stempel der senegalesischen Zollbehörde, der uns die ordnungsgemäße Ausfuhr der beiden Sprinter bescheinigt. Plötzlich Klarheit, das vertraute Gesicht gehört jenem Zollbeamten, welcher uns noch vor wenigen Stunden in Rosso, der 800km weiter nördlich liegenden Grenzstadt zu Mauretanien, eine reibungslose Ausreise in Aussicht stellte. Das Gesicht gehört jenem Zöllner, welcher uns nach mehrstündigen Verhandlungen und mehrfach grundlosen Verzögerungen endlich die benötigte Transitgenehmigung für den Senegal erteilt. Das Gesicht gehört jenem Zöllner, welcher uns das Passavant zunächst fehlerhaft ausstellt, auf unser Anmerken hin jedoch versichert, dass er, sofern Komplikationen entstünden, für deren Beseitigung sorgen würde. Das Gesicht gehört jenem Zöllner, welcher diese Situation bewusst herbeiführte, um uns geradewegs ans Messer zu liefern. Das Gesicht gehört unserem Schlechter. Als wir die Zollpapiere an ihren Urheber übergeben, weicht seine freundliche Miene schlagartig einem hinterhältig prüfenden Blick und die Falle schnappt zu. Es fehlt das dritte Fahrzeug. Ehe wir uns versahen sind Pässe und Sprinter vom senegalesischen Staat konfisziert. Eine Ausreise bleibt auf unbestimmte Zeit verwehrt.
Doch wie kam es eigentlich zu diesem Eklat? Vier Tage zuvor verlassen wir, nach einer unruhig verbrachten Vollmondnacht im Grenzstau, marokkanisches Staatsgebiet und fahren in einen etwa 4 km breiten, verminten Landstrich zwischen der West-Sahara und Mauretanien ein. Das Niemandsland war einst aus politischen Unstimmigkeiten zwischen den beiden Ländern heraus entstanden. Wir finden uns in einem äußerst bizarr anmutenden, von unzähligen Autowracks und Elektroschrott angereicherten Wüstenlabyrinth wieder. Die mauretanische Grenze ist im allgegenwärtigen Sandstaub der Sahara bestenfalls entfernt zu erahnen. Im Schritttempo navigieren wir durch die skurrile Installation, im stetigen Bemühen den betagten Sprintern nicht allzu sehr zuzusetzen. Bei einer gemeinschaftlichen Befreiungsaktion eines steckengebliebenen Fahrzeugs, verbünden wir uns mit einer Gruppe von Senegalesen und einem Gambier, die zufällig das gleiche Ziel verfolgen und auch auf dem Weg nach Gambia waren. Sie hatten die Strecke bereits mehrfach zurückgelegt und so erschien es uns sinnvoll die anstehende Etappe als Kolonne zu bestreiten. Entgegen unseres ursprünglichen Planes wollten die neuen Mitstreiter diese Strecke jedoch in einem Rutsch bewältigen und so nehmen wir uns nach dem passieren der mauretanischen Grenzstation 800 km stillschweigende Wüste zur Brust. Hypnotisiert von der atemberaubend surrealen Monotonie und geblendet vom dichten Wall eines endlos wirkenden Sandsturms, folgen wir blind einer von dünenartigen Sandverwehungen gesäumten, kaum erkennbaren Straße. Die ersten 600 km verlaufen relativ problemlos und wir erreichen Noukchott kurz vor Mitternacht. Nach einer aufreibenden Auseinandersetzung mit einer Gruppe mauretanischer Tankwärter und der anschließenden Irrfahrt durch den unbeschilderten Wahnwitz der verwahrlosten mauretanischen Hauptstadt engagieren wir eine Guide, der uns die restlichen 200 km begleiten soll, um uns zu einem der beiden möglichen Grenzübergänge zum Senegal zu führen. Die nächsten Stunden werden angesichts der mörderischen Piste, sowie unserer bereits höchst fragwürdigen Fahrtüchtigkeit zum regelrechten Himmelfahrtskommando und wie mit einem Wunder erreichen wir gegen halb 6 Uhr morgens, nach einem fast 18 stündigen Ritt, den Hafendistrikt der Grenzstadt. Keine 2 Stunden später erwacht das räuberische Viertel zum Leben. Lautes Geschrei und knatternde Motoren fegen uns unsanft den Schlaf aus den Augen. Sekundenbruchteile liegen zwischen Schlummerkoma und chaotischem Aktionismus. Um den Senegal zu erreichen müssen wir einen Grenzfluss überqueren. Erledigte mauretanische Formalitäten sind dabei unumgänglich. Wir wollen die erste Fähre erwischen und da sind wir bei weitem nicht alleine. Es herrscht das Gesetz des Stärkeren. Um uns herum pures Chaos. Wild rangierende Fahrzeuge, fliegende Händler, zwielichtige Gestalten, Schlepper, Uniformen, ziehendes Volk. Ratschläge, Anweisungen und verräterische Hilfsofferten prasseln aus vier Himmelsrichtungen auf uns ein. Immer wieder versucht man uns die Pässe zu entreißen. Wir bewahren kühlen Kopf, handeln intuitiv. Ausreisestempel, Fahrzeugpapiere, Zoll, Fährentickets. Nur sehr mühselig bahnen wir uns den Weg durch das Organisationsinferno, den weitestgehend gesetzlosen Raum. Wir wechseln Orte, wir wechseln Worte. Völlig Willkürlich. Transparente Bürokratie schlichtweg Utopie. Unsere Beharrlichkeit siegt und Stunden später ist der undenkbare Kraftakt vollbracht. Langsam treiben wir auf der betagten Fähre davon. Der Wahnsinn hat vorerst ein Ende, wenn auch nur für kurze Zeit.
Das gegenüberliegende Ufer erreichen wir feuchten Fußes. Vor Rosso hatten uns bereits viele gewarnt. Generell sorgen Senegals berüchtigte Grenzen für leichte Verunsicherung. Bewusst ist uns die Tatsache, dass unsere Autos älter als 8 Jahre sind, wir also aufgrund einer gesetzlichen Regulierung grundsätzlich nicht problemlos in das Land einreisen dürfen. Der Senegal schützt sich so gegen europäischen Autoschrott. Praktisch befruchtet diese Regelung die ohnehin schon blühende Korruption. Wir treffen den besagten Zöllner. Er schmiedet seinen perfiden Plan. Wohlwissend, dass sich die Wege unserer kleinen Wüstenkarawane im Senegal trennen werden, da unsere afrikanischen Weggefährten eine alternative Route nach Gambia verfolgen, registriert er alle drei Vehikel auf einem Dokument. Er wird uns später eines zollrechtlichen Vergehens aufgrund der vermeintlichen Veräußerung eines der drei Fahrzeuge bezichtigen. Wir erhalten die dreitägige Transitgenehmigung nach mehrstündigem Geplänkel. Ein Zwischenstopp in Dakar fällt somit flach und wir durchqueren 800 km Senegal in weniger als 24 Stunden. Mit einem freundlichen Lächeln nimmt uns also der senegalesische Zollbeamte, dessen Gesicht seltsam vertraut wirkt, an der Grenze zu Gambia in Empfang. Wir nehmen seine Herausforderung bereitwillig an, fletschen unsere Zähne, bieten ihm und seinen heimtückischen Machenschaften entschlossen die Stirn. Der Verhandlungsmarathon beginnt und Stunden vergehen. Irgendwann geraten wir durch Zufall an einen befehlshabenden Offizier. Er hat mit dem Grenzabwicklung eigentlich nichts zu tun, ist jedoch verantwortlich für das Treiben seiner Untergebenen. Mit einem geschickten Bluff stoßen wir bei ihm auf ein offenes Ohr. Nach der von uns geleisteten Überzeugungsarbeit nimmt er seinen teuflischen Zöllner vor versammelter Mannschaft ins Gebet und stellt ihn öffentlich zur Schau. Sein Plan versagt und wir erhalten freies Geleit. Ein letztes Mal treten wir unserem Peiniger gegenüber, beschämt und reumütig sinkt sein verräterisches Haupt. Willkommen in Gambia – nie hatten wir Zweifel, haben immer daran geglaubt!
Aufgewühlt stehe ich am Strand von Tanji. Die Sonne hängt bereits tief am Horizont und färbt das noch immer sehr geschäftige Treiben des gambischen Fischmarktes in einen goldgelben Schleier. Ich schließe die Augen und meine Gedanken gleiten schwerelos dahin. Ich fühle mich unbeschwert und frei. Die Wärme des Abendlichts fließt in meinen Körper und eine seichte Brise salzige Seeluft weht mir sanft ins Gesicht. Meine Sinne sind scharf. Mich durchströmt eine transzendentale Kraft vollkommener Gegenwärtigkeit. Es ist als bliebe die Zeit für einen ganz kurzen Moment stehen. Ich verharre und genieße aufmerksam die Intensität des Augenblicks. Leise vernehme ich den universalen Rhythmus allen Seins und mein Herz schlägt harmonisch im Takt. Mich durchdringt die Musik der Lebendigkeit. Gebannt lausche ich dem freudvoll aufspielenden Orchester des Lebens, bin verzaubert von dem so zeitlos berauschenden Klang. Ich höre das Säuseln des Meeres. Ein Schwall warmes Wasser umspült wohltuend meine Knöchel. Meine Füße versinken immer weiter im nassen, feinen Sand. Ich nehme einen tiefen, befreiten Atemzug, öffne meine Augen und treibe für eine Weile ziellos umher.
Warum war ich hier? Eine Reise hatte uns hierhergeführt. Eine Reise, die uns der Essenz und rohen Schönheit des wirklichen Lebens näherbrachte. Eine Reise, die uns an eine unsichtbare Grenze führte und uns selbige überschreiten ließ. Eine Reise, auf der Fährte unserer Träume. Die grelle Stimme einer jungen Frau bohrt sich in mein Bewusstsein. Energisch offeriert sie inmitten der unüberschaubaren Konkurrenz ihr kostbares Gut. Ich schreite auf sie zu, trete gemächlich in Verhandlung. Zufrieden kaufe ich eine große Menge frisch gefangenen Fisch. Warum war ich hier? Gewiss doch, heute Abend sollte eine große Willkommensfete steigen. Erst vor weniger als einer Stunde sind wir in Brufut angekommen. Weitere 24 Stunden sollten nach dem Passieren der senegalesisch-gambischen Grenze noch vergehen. Eine wütend-hysterische Menschenmenge am Dock in Barra, die nervenaufreibende Überquerung des River Gambia bei rauer See und auf besorgniserregend überladener Fähre, eine quälend heiße, moskitoverseuchte Alptraumnacht auf dem Zollgelände in Banjul und die anschließende Importabfertigung am darauffolgenden Tag galt es zu meistern. Nach unzähligen Strapazen hatten wir es endgültig geschafft. Der Höllenritt war vorbei. Wir kehren zurück und werden Teil einer ewigen Gemeinschaft. Das Dorf nimmt uns überschwänglich in Empfang.
Unser Gefühlschaos ist kaum zu beschreiben, uns fehlen schlichtweg die treffenden Worte. Das Erlebte ist unaussprechlich, schwer greifbar, noch sind die Eindrücke zu frisch. Was die letzten 5 Tage geschah? Wie betäubt ringen wir mit der Tragweite der Ereignisse. So genau kann es noch keiner von uns begreifen. Leeren Blickes sitze ich in der Wanne, der tröpfelnde Duschkopf benetzt schleppend meine Stirn. Schwarzes Wasser fließt zäh an mir herab. Getränkt in Emotion bahnt es sich allmählich seinen Weg. Eine Spannung entweicht meinem geschundenen Körper. Mit Ruhe und Sorgfalt wasche ich mich rein. Frisch bekleidet betrete ich das angrenzende Zimmer. Stumm trifft mich ein fragender Blick. Was war eigentlich geschehen? Den Tränen nahe schauen wir uns schweigend an und nach einer Weile beginnen wir wortlos zu verstehen. Towards the desert and beyond. Gemeinsam können wir alles bestehen.
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